Diskussion zu besonderen Bedürfnisse von »Frauen auf der Flucht«

aus dem Artikel der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 28.11.2015

Gießen (rha). In Europa hat Flucht zwar ein überwiegend männliches Gesicht, weltweit gesehen jedoch sind laut Schätzung der Vereinten Nationen zu 80 Prozent Frauen und Kinder auf der Flucht. Neben Krieg und politischer Verfolgung haben sie oft spezifische Fluchtgründe und daraus resultierende Bedürfnisse, denen man auch in den Aufnahmeländern nur schwer gerecht werden kann.

Dass das Thema »Frauen auf der Flucht« als Teil des großen Überthemas »Flucht und Asyl« mindestens abendfüllend ist, zeigte am Dienstagabend eine Diskussionsrunde im Kerkradezimmer der Kongresshalle.

Prof. Elisabeth Rohr, Professorin für interkulturelle Erziehung an der Universität Marburg, und Ruth Hoffmann, die für den Landkreis Gießen die Notunterkünfte für Flüchtlinge koordiniert, gaben dabei sowohl einen Überblick über die allgemeinen Besonderheiten des Lebens von Frauen auf der Flucht als auch über die aktuelle Situation im Landkreis. Rohr berichtete, dass Frauen in ihren Herkunftsländern oft von Vergewaltigungen, Versklavung, Zwangsverheiratung und weiteren Repressalien betroffen seien. »Geschlechtsspezifische Asylgründe sind zwar seit 2005 als Passus im Gesetz verankert, lassen sich aber oft nur schwer durchsetzen«, meinte Rohr.

Aus Scham könnten die meisten Frauen nicht von ihren Erlebnissen berichten; sexuelle Gewalt sei Monate später oft ohnehin nicht mehr nachweisbar. Dabei höre das Leiden der Frauen mit dem Verlassen ihrer Heimatländer nicht auf. Während der Flucht werde ihnen oft nur gegen sexuelle Dienstleistungen Hilfe und Unterstützung zuteil. Im Aufnahmeland böten die Unterkünfte dann oft wenig Privatsphäre. »Frauen, die alleine ankommen mit ihren Kindern, sind vielfach Freiwild, sowohl auf der Flucht als auch in den Gemeinschaftsunterkünften der Aufnahmeländer«, so Rohr.

Hoffmann schilderte den Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit in ihrer täglichen Arbeit. In den Gemeinschaftsunterkünften der Region sei die Lage für Frauen noch vergleichsweise positiv. Gemäß der vom Kreistag im Sommer verabschiedeten Richtlinie dürfen diese nur maximal Platz für 50 Personen bieten. Oft sei der einzige gemeinschaftlich genutzte Raum die Küche, erzählte Hoffmann. Die von Rohr geschilderten Probleme seien eher für Notunterkünfte typisch, was zurzeit die Leichtbauhallen im Landkreis betrifft. Hier sei man jedoch bemüht, Menschen, die besonderen Schutz benötigen, sobald es geht, in Gemeinschaftsunterkünfte umzuquartieren.

Rein von Frauen genutzte Unterkünfte seien bei den Frauen übrigens wenig beliebt, berichtete Hoffmann. »Diese Frauen haben eigentlich keinen größeren Wunsch als den nach Normalität.« Dazu gehöre selbstverständlich keine geschlechtsgetrennte Unterbringung, ebenso wenig wie eine Unterbringung mit sehr vielen Menschen auf engem Raum, sondern die Möglichkeit, mit Angehörigen zusammenzuleben und sich selbst versorgen zu können.

Auch wenn sich an den allgemeinen Umständen nicht viel ändern lässt, die Debatte rüttelte in jedem Fall auf. Selbst nachdem die Veranstalter, das Büro für Frauen- und Gleichberechtigungsfragen und die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, den offiziellen Teil bereits für beendet erklärt hatten, setzte sich die Diskussion im Publikum rege fort.